Casanova in der Schweiz. Paul Burkhard.
Abenteuer in fünf Bildern (Oper).
Francis Benichou, Georg Rootering, Vazul Matzusz, Rudolf Jost. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. September 2021.
> Eine Zeitreise. Die Oper führt – was die Handlung betrifft – ins Aarestädchen Solothurn des 18. Jahrhunderts, wo der französische Ambassador den Söldnerhandel mit den Schweizer Landeskindern nach Frankreich organisierte und den ortsansässigen Herrn Roll mit der Partikel "von" für seine Vermittlerdienste adelte. Aber davon spricht die Oper von Paul Burkhard nicht. Sie beschränkt sich auf die langfädigen Liebeshändel des erotischen Abenteurers Casanova - - und das 1943, im Jahr der Schlacht von Stalingrad, in der sterilen Epigonalität der Goebbelszeit, als das Zürcher Opernhaus noch Stadttheater hiess. Die Mediokrität der damaligen Kulturfunktionäre imitiert nun die Aufführung in Biel-Solothurn mit beeindruckender Stilsicherheit. Damit kann man die bleierne Schwere der eingeigelten Schweiz am eigenen Leib erfahren wie auf einer Zeitreise. <
1942, im Jahr, als Paul Burkhard seine Oper "Casanova in der Schweiz" schrieb, hatte das Deutsche Reich seine grösste Ausdehnung erreicht. Die Truppen der Wehrmacht standen in Frankreich, Belgien, Holland, Österreich, Ungarn, Polen, der westlichen Hälfte der UdSSR, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Libyen und Tripolitanien. Italien war mit Deutschland verbündet; die Schweiz neutral. Bei den "Kohlezügen", die zwischen Italien und dem Reich auf der Gotthardachse verkehrten, untersuchte niemand, was für Waffen unter der obersten Kohleschicht lagen.
Die Schweiz duckte sich. Juden, die Asyl suchten, wurden abgewiesen: "Nur keine Provokation, sonst kommt er noch und besetzt uns!" Er: der Gröfaz, "der grösste Feldherr aller Zeiten". Die Kunst von Bühne und Film war allenthalben auf harmlosen Eskapismus ausgerichtet. Um seine Frau, eine Jüdin, zu schützen, machte Hans Moser zusammen mit Theo Lingen bei den Ufa-Filmen Tag und Nacht den Komiker.
Das Kulturgeschehen der Eidgenossenschaft stand im Dienst der "geistigen Landesverteidigung". Sie brachte mehrheitsfähige, apolitische, heimatliche Themen zur Ertüchtigung des Wehrwillens in Haus und Heim. Darum gab es für die Uraufführung vom 20. Februar 1943 im Zürcher Stadttheater nicht einfach "Casanova", sondern "Casanova in der Schweiz". Die Handlung spielt in Solothurn und Genf. Dazu erwähnt das Libretto noch Basel, Zürich und Baden. Also Heimatboden. Schwyzerland.
Der Mentalität der eingeigelten, streng neutralen Eidgenossenschaft entspricht Paul Burkhards Kompositionsweise. In ihrer Kritik der Uraufführung schrieb die "Neue Zürcher Zeitung": "Dass es ihn [Burkhard] zu Richard Strauss hingezogen, ist kaum zu bezweifeln. Daneben stellt man aber auch leise Anklänge an Puccini, an Offenbach oder an die Introduktion klassischer Walzer fest ..." Die Musik bewegt sich also zwischen Deutschland, Italien, Österreich und Frankreich – den Nachbarn der Schweiz.
Eingeigelt ist der 31-jährige Komponist auch seelisch. "Unzucht mit Männern" ist strafbar. "Päuli" aber empfindet homosexuell. Diese Ausrichtung ist eine Schande. Man muss sie verbergen und unterdrücken. Viele Männer flüchten in eine Scheinehe. Päuli, der künstlerisch Sensible, flüchtet in eine Oper. In ihr besingt er zweieinhalb Stunden lang den heterosexuellen Liebestrieb. Man merkt dem Werk die Selbstverleugnung an: Kein einziger echt empfundener Ton; dafür heldenhafte Anstrengung vom ersten bis zum letzten Takt; Verdrängung, Technik und Komödiantik; aber nicht Wahrheit. Aus diesem Grund erreicht uns die Oper nicht. Sie spielt hinter Glas.
Die unlebendige Künstlichkeit, die das Werk gleich nach seiner Geburt zum Untergang bestimmte (die Programmheft-Dramaturgin: "Bei 'Casanova in der Schweiz' handelt es sich um eine ganz und gar unbekannte Wiederentdeckung, von der es keinen einzigen Tonträger gibt." Der Dirigent: "Da niemand das Stück kannte, glich die Einstudierung in jeder Hinsicht einer Uraufführung."), die dem Werk inhärente Künstlichkeit bringen nun Regisseur Georg Rootering, Bühnenbildner Vazul Matusz und Kostümgestalter Rudolf Jost dadurch kongenial zum Ausdruck, dass sie das Ganze im Stil der Fernsehoperette der 1960er Jahre inszenieren, als eben die Farbtechnik aufkam und kräftige Akzente gefragt waren.
Gespielt wurde damals noch "werktreu", das heisst, die Darsteller wurden kaum bewegt. Sie standen einfach im Raum, schauten auf den Dirigenten und sangen. Nichts von doppeltem Boden; reine Einfalt; und, um Gottes willen, ja keine Körperlichkeit! Schon gar nicht in einer Oper, die ausschliesslich davon spricht. Sonst käme man noch auf Gedanken ...
So führt jetzt die Aufführung von "Casanova in der Schweiz" in die aseptische Zeit der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Bundesrepublik zurück, in der es auf dem Bildschirm und auf der Bühne "sauber" zuging. Der damalige Kritiker des "Bund", Martin Etter (-tt-), der selber etwas von Verdrängung wusste, hätte gejubelt: Endlich keine Mätzchen! Reine Klassizität (wie er sie verstand)!
Er hätte in seiner Kritik jeden Sänger mit drei Eigenschaften charakterisiert (das war sein Markenzeichen). Simon Schnorr als Casanova: Überzeugendes Auftreten, sicheres Spiel, gesanglich imponierend. Konstantin Nazlamov als Diener: Komödiantisch, einsatzfreudig, routiniert. Rebekka Maeder als Madame de ***: Charaktervoll, glaubwürdig, überlegen. Wolf Latzel als Monsieur de ***: Beherrscht, nobel, zurückhaltend; etc. pp.
Martin Etter, der sich der Entwicklung des Regietheaters verweigerte (Ruth Berghaus, die Avantgardistin, war für ihn nur "das Weib"), hatte gute Ohren und hohe musikalische Ansprüche. Oft zeigte er den Bieler Kapellmeistern die Rute. Francis Benichou, der jetzt "Casanova" einstudiert hat, wäre nicht gut weggekommen. Seiner Interpretation hätte -tt- "Mangel an Beseelung" vorgeworfen. Und er hätte das gleichmässige, zähe Forte, zu dem alle Beteiligten den ganzen Abend hindurch angehalten wurden, mit scharfen Worten gegeisselt. In diesen Punkten muss ihm jeder Nachgeborene recht geben.
Starre, unlebendige Künstlichkeit.
Ganz im Stil der Fernsehoperette.
Mit sängerfreundlicher Aufstellung.