Ein leuchtender, aber leerer Traum. © Arno Declair.

 

 

Rose Bernd. Gerhart Hauptmann.

Schauspiel.

Roger Vontobel, Claudia Rohner. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. September 2021.

 

> Eine strenge Sache. Gerhart Hauptmann schreibt ein Drama fast ohne Licht, und entsprechend finster ist es auf der Bühne. Die Lichtpunkte sind nur Talmi. Also ein Regen von Goldplättchen wie im Varietee. Also Illusion. Also leuchtender, aber leerer Traum von einer besseren, aber bloss herbeibehaupteten Welt. - Ohne Konzessionen an Mode, Zeitgeist und Fun leuchtet die Inszenierung diese strenge Sache aus, und durch die Kohärenz, mit der sie das Stück, seine Sprache, seinen Rhythmus und seine Figuren in die Mitte stellt, macht sie das Drama mehr als ernst: Sie macht es beklemmend. <

 

Am 31. Oktober 1903, also im selben Jahr, in dem an der Berner Kornhausbrücke das Stadttheater eingeweiht wurde, kam am Deutschen Theater Berlin "Rose Bernd" zur Uraufführung. Beide Werke (das architektonische wie das theatralische) sind, ihrer Zeit entsprechend, vollgestopft mit ziselierten Kleinformen. Gerhart Hauptmanns Schauspieltext beginnt mit einer seitenlangen, sehr detaillierten Bühnenanweisung: "Eine ebene, fruchtbare Landschaft. Klarer, sonnig warmer Morgen im Mai. Schräg von links nach rechts und aus dem Mittelgrunde nach vorn verläuft ein Feldweg. Die Felder zur Rechten liegen ein wenig höher als dieser. Am weitesten nach vorn ein kleines Fleckchen Kartoffelland, über dem das grüne Kraut schon sichtbar ist. Ein kleiner blumiger Graben trennt Weg und Feld, links auf der etwa mannshohen Böschung ein alter Kirschbaum, rechts Haselnuss- und Weissdornbüsche ..."

 

Im Bern der Gegenwart schiebt Bühnenbildnerin Claudia Rohner die ganze Landschaftsstaffage beiseite. Die Szenerie besteht lediglich aus einer nackten Schräge. Sie lässt den Bühnenboden auf einen unsichtbaren Abgrund zulaufen. Und so entfaltet sich nun die Handlung als Schau-Spiel in dreifachem Sinn: 1. Das klar begrenzte Plateau bringt den Zuschauern "une tranche de vie" vors Auge, und zwar in Form eines Modells, welches in reduziertem Massstab das Leben abbildet. 2. Zu dieser Abbildung wird ein Drama benützt, das heisst ein Spectaculum, und dementsprechend wird die Bühne von einer sichtbaren Scheinwerferbatterie beleuchtet, die aus Disco, Musical und Varietee herkommt. 3. Mit dieser Einrichtung denunziert die Bühne das ästhetische Vergnügen am Untergang der Rose Bernd im Goldportal des bernburgerlichen Theaterarchitekten René von Wurstemberger als bürgerlichen Voyeurismus.

 

Um diese Gegebenheiten darzustellen, inszeniert Roger Vontobel den Anfang der Vorstellung dergestalt, dass das Publikum beim Hereinkommen auf den nackten eisernen Vorhang blickt - und damit auf die einzige Fläche im Haus, die nicht dekorativ wirken kann und will. Der Eiserne repräsentiert einfach schlichte Funktionalität. Und mit diesem harten Pragmatismus stellt nun auch die Inszenierung das Drama in den Raum.

 

Die Handlung beginnt nicht länger an einem "sonnig warmen Morgen im Mai", sondern an einem "Morgen danach". Das Paar kauert nackt, wie Gott es geschaffen hat, auf dem Boden der Schräge, und wir verstehen: Von jetzt an geht es nur noch abwärts. Zwar kleben an seinen Gliedern noch Goldpailletten, die an den Traum der seligen Hingabe erinnern, und es gleiten auch weiterhin blitzende Talmiplättchen vom Bühnenhimmel herunter wie fallende Sterne, doch ergibt sich aus ihrer Ansammlung nichts Festes, und wenn sich der Himmel am Ende der Aufführung verströmt hat, ist er schlicht und einfach leer.

 

Roger Vontobel inszeniert "Rose Bernd" also nicht als realistisches Drama, sondern als theatrale Veranstaltung. Das bedeutet, dass er ihr eine Form gibt, die nicht die Kräfte "Zufall" und "Schicksal" imitiert; zur Darstellung bringt er vielmehr die verhängnisvolle Verknotung von Lebenslust, Liebesverlangen und bürgerlicher Gesellschafts­organisation, bis es weh tut.

 

Um das kenntlich zu machen, schlingt Roger Vontobel ein akustisches Band um Handlung und Menschen in Form von sechs Männern mit Blasinstrumenten und schwarzen Hüten. Ihre Musik begleitet das Drama nicht, illustriert es auch nicht, sondern ruft es hervor. Die Töne des Ensembles Traktorkestar bezeugen wie die Notenlinien einer Wagneroper, dass hoch über allem eine gestaltende Kraft liegt – aber nicht mehr die Kraft des Herrgotts, sondern die Kraft des Künstlers.

 

Ist aber "Rose Bernd" bloss eine theatrale Veranstaltung (Georg Büchner: "ach, die Kunst!"), kann die Bühne keinen Trost mehr liefern, auch keine Gewissheiten mehr, sondern nur noch Abbildungen der Condition humaine in ihrer ganzen historischen und gesellschaftlichen Fragwürdigkeit.

 

Mit diesem modernen, desillusionierten Blick werden jetzt Menschen von 1903 auf die Bühne gebracht, und an den vergangenen Problemen können wir unsere Sensibilität für die heutigen Probleme schärfen lernen. Um die Abläufe kenntlich zu machen, meisselt die Aufführung die Figuren mit kantiger Strenge heraus. Wir verstehen in jedem Moment, wo sie sich befinden – und wir mit ihnen.

 

Roger Vontobel stellt die Personen sicher und ausdrucksstark in den Raum, und an diesem "Stellen" zeigt sich sein meisterliches Gespür für Rhythmus und Proportion. Unterm Goldportal überlagern und verstärken sich die Bewegungen von Musik, Handlung, Gefühlen und Körpern zu einem mehrdimensionalen, fluktuierenden, zeit­gemässen Kunstgeschehen.

 

Alle Schauspieler treten zum ersten Mal am Kornhausplatz auf. Sie treffen ihre Rollen mit Wahrheit und Präzision. Die Entwicklung, die sie durchlaufen, ist beeindruckend ablesbar. Eine besondere Kraft liegt im stummen Spielen und Auftreten, namentlich bei der Darstellerin der Titelrolle Yohanna Schwertfeger. Doch wird sie sich, zusammen mit ein paar anderen, noch auf die Akustik des Hauses einstellen müssen. Ein Drittel ihrer Sätze war an der Premiere (trotz Ohrentest und Platz in der zweiten Reihe) nicht verständlich. Das altehrwürdige Stadttheater stammt eben noch aus einer Epoche, in der scharfe Konsonantik (vor allem in den Frikativen und Zischlauten) zum Handwerk gehörte. Wer sich da zurückhält, dessen/deren Rede wird zu Brei zermalmt.

 

Merke!

 

Das ästhetische Vergnügen am Untergang ... 

... dargestellt als Voyeurismus ...

... bis zur harten Landung am Bühnenboden.

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