Schuld und Sühne. Fjodor M. Dostojewskij/Henri Hüster, Lea Lustenberger.
Schauspiel.
Henri Hüster, Lea Burkhalter, Marie Sturminger, Florentin Berger-Monit, Johannes Wernicke. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 28. Februar 2020.
Wenn das Publikum den Theatersaal betritt, sind die Figuren schon aufgestellt. Die fünf Spieler Grazia Pergoletti, Marie Popall, David Brückner, Nico Delpy und Jonathan Loosli stehen krampfhaft zusammengekrümmt auf der Spielfläche, ohne sich zu regen. Sie nehmen das Bild voraus, in das die Aufführung nach guten drei Stunden einmünden wird: Das Drama ist abgespult, die Schuldeinsicht drückt zu Boden. "Das könnte das Thema für eine neue Erzählung sein", schreibt Fjodor M. Dostojewskij im Epilog, "doch unsere Erzählung ist hier zu Ende".
In Bern setzt die Bühne bei "Schuld und Sühne" von Anfang an das Thema: "Erde zu Erde." Halb eingesunken ragen ein Schrank und eine Tür aus der braunen, gewellten Landschaft, mit der Lea Burkhalter Unwirtlichkeit und Unbehaustheit signalisiert. Der Hintergrundprospekt zeigt dazu aus schwarz-weissen Elementen eine wirre Collage von Geschichts-, Film-, Roman- und Wirklichkeitspartikeln. An ihnen ist die Weite des Themas und der erzählten Welt ablesbar, und auch die Tatsache, dass einzelne Zooms die mikroskopische Ebene der Introspektion beleuchten.
Natürlich kann die Bühnenfassung von Regisseur und Dramaturgin die siebenhundert Seiten des Romans nur in stark geraffter Form wiedergeben. Deshalb konzentrieren sich Henri Hüster und Lea Lustenberger klugerweise (aber auch notgedrungen) auf zwei Linien: einerseits die starken Handlungsmomente, anderseits die Entwicklung Raskolnikows.
Die Zentralfigur begeht aus Not einen Mord, den sie in ideologischer Vermessenheit zu Experiment und Heldentat hinaufstilisiert, um dann, getrieben von der Entwicklung, Schritt für Schritt das Gedachte zurückzubuchstabieren. Auf leidvollem Weg gewinnt sie am Ende eine neue Sicht von Welt, Leben und Seligkeit.
Während aber Dostojewskij den Verlauf in konventioneller Er-Form erzählt, bildet ihn die Bühnenfassung in Dialog- und Ich-Form ab, und sie verteilt dabei, in konventioneller Regietheatermanier, Raskolnikow auf fünf Spieler. Das Publikum begreift das rasch, zumal ihm die Aufgabe nicht dadurch erschwert wird, dass die übrigen Personen ebenfalls aufgesplittert werden. Der Staatsanwalt bleibt der Staatsanwalt (Jonathan Loosli), Katerina Katerina (Marie Popall) und die Wucherin die Wucherin (Grazia Pergoletti). Hier stimmt also das Geschlecht der Figuren mit dem Geschlecht der Spielenden überein, auch wenn der Realismus des Einfühlungstheaters durch groteske Bewegungen und Kostüme (Marie Sturminger) konsequent unterlaufen wird.
Wenn es trotzdem mühsam wird, der Aufführung zu folgen (so mühsam, dass vierzig Premierengäste das Theater in der Pause verlassen), liegt die Schuld dafür nicht beim Konzept, sondern beim Mangel an Handwerk. Die Schwächen zeigen sich an der mangelnden Evidenz beim Bespielen des Raums, an der ungenügenden rhythmischen Gestaltung des Spiels und an den gravierenden sprachlichen Mängeln.
Die ersten Sätze der Aufführung werden chorisch vorgetragen, doch sind sie nicht verständlicher als das gemurmelte Vaterunser der Gemeinde im Hauptschiff des Münsters, und der Grund ist an beiden Orten derselbe: mangelnde Koordination. Im Schauspiel ist anfangs noch nicht zu entscheiden, ob der Effekt auf Ungenügen zurückgeht oder gewollt ist: Karikatur der Chorauftritte beim Regietheater? Oder Hinweis darauf, dass die fünf Raskolnikow-Ichs nicht als deckungsgleich aufgefasst werden sollen? Doch im Lauf der Vorstellung zeigt sich, dass die wohlmeinende Auffassung nicht weit trägt. Die verschiedenen chorischen Einsätze sind immer gleich unpräzis, und zwar in einer Form, die man nicht üben kann, sondern die sich "von selbst" ergibt. Also Ungenügen.
Desaströs sodann die Artikulationsschwäche der Frauen. Wenn sich das jüngste Mitglied des Ensembles, David Brückner, untadelig ausdrückt und Nico Delpy sich darstellerisch und sprecherisch zu einer neuen, beeindruckenden Qualität aufschwingt, hört man bei den Frauen nicht Konsonanten, sondern nur "onnonannen". Jonathan Loosli befindet sich dazwischen.
Mit diesen Gebrechen aber ist die Aufführung nicht lebensfähig. Und der Grund ist, dass sich in ihr Materie und Geist widerstreiten. – Geist, das ist das Konzept; das ist der grosse Roman von Dostojewskij; das ist die Intensität des Spiels; die vorzügliche Musik von Florentin Berger-Monit und Johannes Wernicke. – Materie, das ist das Handwerk: der Umgang mit der Zeit; der Umgang mit der Bühne; der Umgang mit der Sprache. Da passieren viele ärgerliche Fehler ... Und die Materie siegt. Als Schüleraufführung würde die Produktion nicht durchgehen.
Schrecken ...
... Mord ...
... und Totschlag.