Leise verrinnt die Vitalität. © Annette Boutellier.

 

 

 

Tod eines Handlungsreisenden. Arthur Miller.

Schauspiel.                  

Gerd Heinz, Lilot Hegi. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 17. Februar 2020.

 

 

Als die Proben zu Arthur Millers neuestem Stück, "Tod eines Handlungs­reisenden", vorbereitet wurden, machte Regisseur Elia Kazan mehrere Vorschläge, um die Verständlichkeit der Handlungsführung zu verbessern. Miller willigte ein. Doch bei der Lektüre des überarbeiteten Skripts kamen Zweifel über die Wirksamkeit der Änderungen auf. Um seine Meinung befragt, antwortete Walter Fried, der Koproduzent: "Das Stück ist jetzt klarer, aber weniger interessant." So trat das Schauspiel in seiner ursprünglichen Form den Siegeszug um die Welt an.

 

Heute ist das Stück immer noch schwer verständlich, wenn man ihm nicht hilft. Es bringt die beiden letzten Tage aus Willy Lomans Leben. Doch der Lauf der Handlung wird durchsetzt mit Erinnerungen der Titelfigur. In ihnen zeigt sich, was Willy Loman für ein Leben führte, wie er von seinen Söhnen und Geschäftspartnern enttäuscht wurde und wie er am Ende keinen andern Ausweg mehr sah, als durch einen fingierten Autounfall aus dem Leben zu scheiden.

 

Die Mischung von Gegenwarts- und Vergangenheitspartikeln entspricht dem Verlauf des Bewusstseinsstroms, der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die Dichter faszinierte. Nicht verwunderlich, dass der "Tod eines Handlungsreisenden" anfänglich den Arbeitstitel trug: "Im Inneren seines Kopfs" (Inside His Head).

 

Sobald die Aufführung klarmacht, was innen ist und was aussen, was Erinnerung und was Gegenwart, wird das Schauspiel verständlich. Fatalerweise jedoch bleibt die Inszenierung, mit der sich der 79jährige Regisseur Gerd Heinz von der Bühne verabschiedet, dem Stück genau diese Klärung schuldig. Und dadurch wird sie zum Ärgernis.

 

Vielleicht ist nur ein kleiner technischer oder konzep­tioneller Fehler schuld, dass die Aufführung in Bern nicht funktioniert. Die Schauspieler tragen ja Kopfmikrofone. Doch ist deren Einsatz, wenn er denn erfolgt, nicht merkbar. Gedacht war vielleicht, den Stimmen Hall beizumischen, wenn die Szene nicht in der Gegenwart spielt. Doch ausser bei der Erscheinung von Stéphane Maeder, der Onkel Ben verkörpert, fehlt der akustische Marker. Technische Panne? Oder konzeptioneller Fehler? Hat man etwa bei den Endproben gemerkt, dass die Qualität der Aufführung durch die Beimischung von Hall vermindert wird?

 

Gleichviel. Jetzt verflüchtigen sich die Stimmen auf der leergefegten Bühne (Lilot Hegi) in den Schnürboden und die Kulisse, und die Textverständlichkeit ist ramponiert. Da nützt es nichts, dass die ohrenärztliche Kontrolle am 27. Dezember ergab: "Sie hören wie ein Zwanzigjähriger." Nach anderthalb Stunden ist Pause. Die Doyenne der Theaterkritik streckt die Hand aus: "So, meine Lieben, ich verabschiede mich. Den zweiten Teil schenke ich mir."

 

Es ist ein Jammer. Immer noch merkt man, wie gut das Stück ist. Immer noch wird man von der Spannung gepackt, mit der die einzelnen Szenen auf ihren Kulminationspunkt zulaufen. Und immer noch muss man sich vor der Leistung des Ensembles verneigen. Alle sind gut, einzelne gar vortrefflich.

 

Die grösste Überraschung bringt Luca Dimic als Biff. Er zeichnet den Weg eines jungen Versagers zur Selbsteinsicht mit stupender körpersprachlicher Exaktheit, und in seine weiche Stimme mischen sich Hilferufe und Herzensnot. Für diese Darstellung lohnt es sich schon, im Stadttheater zu bleiben. Nach der Pause kommt nämlich die grosse Szene, wo Biff den Vater im Hotel beim Seitensprung mit einem Girl überrascht. Alle drei sind da hervorragend: der Vater, der Junge und das Girl.

 

Überhaupt die Chargen: Neben Irina Wrona, die mit Aplomb die vulgär aufbegehrende Bettkatze verkörpert, fällt auch die absolut stimmige Zeichnung Onkel Charleys durch Stefano Wenk ins Auge. Wie er die Karten mischt und austeilt, wie er die Brille hochschiebt, wie er die Arme ausbreitet und wie er beim Abgehen drei Finger der linken Hand bewegt, um Mitleid, Resignation und Ratlosigkeit auszudrücken, ist unüber­trefflich.

 

So bringt die Aufführung, trotz Handicaps, in allen Rollen grosses Schauspielertheater. Gabriel Schneider als älterer Sohn, Chantal Le Moign als Mutter – man möchte sie nicht anders haben; man schliesst sie ins Herz, und es kommt einem am Ende vor, als sei man mit ihnen aufgewachsen. Daran zeigt sich die Grösse von Millers Schauspiel: Es bringt uns ein Stück Amerika nahe, als wär's ein Stück von uns – und wir ein Stück von ihm.

 

Am faszinierendsten aber ist Jürg Wisbach als Träger der Titelrolle. Ganz aufrecht ist er, überhaupt nicht schmierig, kein Staubsaugervertreter, sondern ein Gentleman und Aristokrat, der an das Gute im Menschen glaubt und an die Verheissungen des amerikanischen Traums, man könne es mit Einsatz und gutem Willen nach oben bringen. Und da schenkt er sich nichts. Seine Haltung bleibt gerade bis zum Schluss. Er bricht nicht zusammen. Bloss rinnt die Vitalität aus ihm heraus wie das Sägemehl aus einer Puppe; er wird hohler und bleicher, hohler und bleicher. Am Ende erfolgt sein Zusammenklappen still und mitleiderregend. Die Feinen gehen zugrund. Die Groben überleben.

 

Wie schade, ist der "Tod eines Handlungsreisenden" an der Premiere noch nicht fertig! Man müsste ihn unter akustisch korrekten Bedingungen erleben können, und in einer klaren, strukturierten Aufführung. Vermutlich würde man dann von einem Ereignis reden.

 

Da sind Gegenwart und Vergangenheit. 

Die Familie aber ist zerbrochen. 

 
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