Unersetzlich: Otto Schenk (Mitte) als Firs. © Astrid Knie.

 

 

 

Der Kirschgarten. Anton Tschechow.

Schauspiel.          

Amélie Niermeyer, Stefanie Seitz. Theater in der Josefstadt, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. Februar 2020.

 

 

Was käme heraus, wenn ein theaterwissenschaftliches Institut das Thema ausgeben würde: "Warum müssen alle regieführenden Frauen die Männer ausziehen?" Als erstes würde das Wort "müssen" in Frage gestellt. Dann das Wort "alle". Bei genauerer Betrachtung würde sich zeigen, dass das Umgekehrte nicht gilt: Die regieführenden Männer lassen die Frauen in Ruhe (auf der Bühne). Und am Ausziehen beteiligen sich auch nicht alle Regisseurinnen, sondern nur neunzig Prozent.

 

Amélie Niermeyer gehört zu den neunzig Prozent. Sie zieht zuerst Claudius von Stolzmann aus, der den Diener Jascha spielt, dann Alexander Absenger, mit dem Charlotta Iwanovna, die Gouvernante, besetzt ist. Immerhin bilden die beiden nackten Körper fürs Auge eine aufstrebende Linie. Doch das Publikum reagiert "not amused". Statt frenetisch klatscht es am Ende der hervorragenden Aufführung nur matt. "Es ist eine Frage des Stilgefühls", erklärt ein langjähriger Abonnent: In der Josefstadt sind Gesässbacken und Pimmel nicht trendy, sondern geschmacklos.

 

Da nützt es nichts, das Ausziehen sorgfältig herzuleiten. Der Diener Jascha ist das, was man früher als Schnösel bezeichnete. Ein aufgeblasener Wicht, der nur eines kennt: den eigenen Profit. Schlau und unverschämt schiebt er sich immer weiter vor. Nun nimmt er sich heraus, erst mal zu duschen, als die Reise­gesellschaft nach tagelanger Fahrt im Landgut ankommt. Solange man ihn nicht zur Ordnung ruft, verhält er sich wie der Herr im Haus. So sind Parasiten. Die Regisseurin zeigt das, in dem sie Jascha, den Diener, blossstellt.

 

Bei Charlotta Iwanovna verhält es sich anders. Durch die Besetzung mit einem Mann wertet Amélie Niermeyer die Figur auf. Denn alles Irritierende ist interessant. Und Charlotta ist irritierend. Sie hat keine Papiere. Sie weiss nicht, wie alt sie ist. Sie weiss nicht, woher sie kommt. Sie weiss nur, dass sie als Kind von einer älteren Dame ausgenützt wurde. Auf diesem Weg wurde sie zu dem, was man heute als Trans bezeichnet. Die Nacktheit, in die sie die Regisseurin führt, ist deshalb für Charlotta ein Unglück. Sie schämt sich, im Körper eines Mannes zu stecken; sie lehnt ihn ab.

 

Beim "Kirschgarten" in der Josefstadt macht das Ausziehen folglich Sinn. Denn ausgezogen werden auch alle anderen Menschen, selbst wenn ihre Kleider unbehelligt bleiben. Jede Figur in Anton Tschechows personenreichem Stück wird im Lauf der Vorstellung transparent. 

 

Das schafft Amélie Niermeyer durch meisterhaftes Spiel mit der Drehbühne (Stefanie Seitz). Die Auftritte und Abgänge erfolgen wie im Traum. Und wie im Traum kommen alle Elemente in Bewegung, wandeln sich, kommen wieder, bis es am Ende heisst: Schluss! Abfahren! Der Boden, über den die Gesellschaft einen Sommer lang leicht hingehuscht ist, wird jetzt umgepflügt, der Kirschgarten abgeholzt. "Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Feld; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr." (Ps. 103, 15 f.)

 

Die Josefstädter Inszenierung ist alles andere als sentimental. Sie ist klar und realistisch, so dass wir in Intonation und Gebärden der Schauspieler uns und unsere Welt erkennen. Es gelingt ihr, die beiden Qualitäten zu erreichen, die Roland Donzé vom Roman verlangte: Hat das Ganze Fluss? (Est que ça coule?) Und: Sind die Figuren lebendig? (Est que les personnages sont vivants?)

 

Erzählt aber der "Kirschgarten" davon, wie kostbar Zeit und Gegenwart sind, so zeigt sich das am packendsten in der Verkörperung des alten Dieners Firs durch den bald neuzigjährigen Otto Schenk. Eingeschrumpft, zart und zerbrechlich bewegt er sich am schwarzen Stock über die Bühne. Die Darstellung der Vergänglichkeit bekommt durch seine Auftritte einen letzten Ernst, den keine Regie herzustellen vermag, sondern nur das Leben. Und damit verkörpert der greise grosse Schauspieler den Weg allen Fleisches mit nackter Eindringlichkeit.

Die Verbundenheit zweier Aussenseiter: Firs und Charlotta. 

Der Taumel der Party als Flucht vor der Wirklichkeit. 

Und gleich heisst es: Abfahren! Das Spiel ist aus! 

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