Der Traum von der Zweisamkeit. © Reinhard Werner/Burgtheater.

 

 

 

Sechs Tanzstunden in sechs Wochen. Richard Alfieri.

Schauspiel.          

Burgtheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. Februar 2020.

 

 

Markus Meyer gehört zu den wenigen Schauspielern, bei denen sich Kraft, Faszinationsgabe und Wandlungsfähigkeit vereinigen. Das macht seine Auftritte unvergesslich. Alles bei ihm ist richtig, und alles hat Grösse. Das Wort hat Goethe verwendet, um Schiller zu beschreiben. Und wenn man dessen Schauspiele neben die seiner Zeitgenossen legt, sieht man, was gemeint war: Schilles Werke haben mehr Weite, mehr Schwung, weil ihr Autor ein anderes Mass hatte als das gewöhnliche Volk. Es ist also eine Frage der Dimension. Am Burgtheater hatten sie der Hörbiger (Attila), die Jonasson, der Pekny, die Dene, der Voss – und heute der Meyer.

 

Schon der erste Auftritt (er erfolgt hinter der Tür) macht klar, woraus sich Meyers Kunst nährt: aus Überschuss und Kühnheit. Kühnheit, etwas Neues, Verrücktes zu probieren, und Überschuss an Talent. Er muss uns dann überzeugen, dass der Ansatz legitim ist. Das tut er, indem er den Bogen weiterzieht, bis sich das Ganze rundet und man erkennt: Ja, so musste es sein.

 

Dasselbe Phänomen hat sich ereignet, als die Londoner dem Schauspieler Garrick begegneten. Von ihm war der Göttinger Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg dermassen beeindruckt, dass er ihn zu studieren begann und in den "Briefen aus England", publiziert 1776-78, eine bis heute lesenswerte Analyse seines Spiels vorlegte.

 

Meyer verkörpert jetzt am Burgtheater einen schwulen Tanzlehrer. Laut Stück stand er in New York vorn auf der Bühne, und in "Chorus Line" hatte er den grössten Erfolg. Man nimmt ihm das ab, sobald er in den "Sechs Tanzstunden in sechs Wochen" die ersten Schritte macht. Seine Bewegungen sind nämlich mehr als hinreissend; sie sind verwirrend ausdrucksstark, dämonisch. 

 

Im Kontrast zur Weite, mit der Meyer die Rolle anlegt, bringt die Partnerin Andrea Eckert Ruhe, Anstand, Trauer ins Spiel. Und derweil er herumzappelt wie ein ADHS-Kind, ruft sie zur Ordnung, zieht nieder. Zusammen bilden sie eine aufstrebende Diagonale. Doch Richard Alfieri legt sein Stück so an, dass der Ernst des Lebens immer unabweislicher durchzuschimmern beginnt.

 

Die Linie mündet in eine bewegende Divergenz: Reglos im Sofa die Eckert, schmal und zusammengesunken, vom Krebs gezeichnet; Meyer dagegen aufrecht am Telefon. Sie hatte nicht mehr die Kraft, zum Apparat zu gehen. Er hat abgenommen, und nun vernimmt er zum erstenmal Roberts Stimme. Vielleicht der Mann seines Lebens. Mit Wärme dringt die Liebe, die er sich ersehnt, aus seinen kurzen, konventionellen Sätzen. Es ist, als ob ein goldenes Licht aufginge, und der Kritiker stellt fest: Leuchten kann er auch!

 

Wenn aber Fontane schrieb: " 'Genie' definiere ich dahin: gestörtes Gleichgewicht der Kräfte", so gilt das auch für Markus Meyer. Hinter seiner stupenden Breite des Talents, Ausdrucksvielfalt und Beweglichkeit blieb bis heute die Artikulation zurück. In diesem Punkt war ihm der Voss über. Aber Meyer ist noch nicht am Ende des Wegs. Das Gebiet makelloser Verständlichkeit kann er noch erobern.

Der Anfang. 

Die Mitte. 

Das Ende. 

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