Owen Wingrave. Benjamin Britten.

Oper.                  

Harald Siegel, Reto Nickler, Christoph Rasche, Katharina Weissenborn. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 7. November 2015.

 

 

Als die BBC in den 1960er Jahren einen zweiten Fernsehkanal eröffnete, fühlten sich dessen Leiter besonders dem Kulturauftrag verpflichtet ("Fernsehen lehrt und unterhält"), und sie luden den berühmtesten englischen Komponisten ein, eine Fernsehoper zu schreiben, die erste dieses Genres. Benjamin Britten schlug vor, "Owen Wingrave" zu vertonen, eine Novelle von Henry James. Sie spielt im viktorianischen England, und Schauplatz ist ein grauer,  altadeliger Familiensitz, das Haus Paramore, in dem die Geister eines jähzornigen Obersten und des von ihm erschlagenen Sohnes durch die Korridore wandeln. - Britten erklärte, hier könne das neue Medium beim Ein- und Ausblenden der Erscheinungen seine technischen Stärken ausspielen und das Haus mit seinen Gängen, Treppen und Winkeln zur Hauptperson machen. Und so sieht man in der historischen Aufnahme, die Britten selbst dirigierte, das gespenstische Paar durch den Korridor wandeln, bis es sich vor einer Mauer in Luft auflöst.

 

Für die Ausstrahlung am 16. Mai 1971 musste sich Britten, der keinen Fernseher besass, in Aldebourgh vom lokalen Händler einen Apparat mieten. Das erste eigene Gerät erhielt er erst zwei Jahre später zu seinem sechzigsten Geburtstag von der Plattenfirma Decca geschenkt.

 

Für die Wahl des Stoffs, den Britten der BBC mit den Argumenten (1) berühmter Novellist, (2) Medieneignung und (3) Britishness vorschlug, war in Wirklichkeit etwas anderes ausschlaggebend gewesen, nämlich die Haltung des Pazifismus, die Owen Wingrave verkörpert, und die sich mit Brittens eigener Haltung deckte. Dass Krieg keine Lösung sein könne, war eine Überzeugung, für die Britten schon während des Zweiten Weltkriegs eingestanden war, und die er immer wieder mit machtvollen Kompositionen aussprach (am eindringlichsten wohl sein "War Requiem" zur Wiedereinweihung der 1940 vom Krieg zerbombten Kathedrale von Coventry).

 

Und nun also Owen Wingrave, der letzte Spross eines Geschlechts, das dem König und der Armee eine Sukzession von "Helden" schenkte, die "glorreich" ihr junges Leben "im Dienst für König und Vaterland" in die Schanze warfen und damit für ihren Familiennamen Win-grave (erwirb das Grab) Ehre einlegten. Owen verweigert sich jetzt aber dem Waffenkleid. Es ist ihm in einem langen Prozess des Zweifelns und Nachdenkens aufgegangen, dass die Uniform den Menschen verändert: Durch sie wird der Mann zur Tötungsmaschine, "nachdem er aufgehört hat, eine Privatperson zu sein" (Brecht).

 

Das wahre Gespenst im Haus Paramore ist also die fatale bellizistische Tradition, die unter dem Namen "Opferbereitschaft" kritiklose Unterwürfigkeit und Selbstpreisgabe verlangt. Dieses Familiengespenst durchzieht die Szene in der Biel-Solothurner Aufführung in Form des Tarnanzugs (Kostüme Katharina Weissenborn), in dem alle Mitwirkenden stecken, Frauen wie Männer, Zivilisten wie Armeeangehörige. Selbst Owen kann sich nicht restlos daraus herausschälen, immer noch kleben ihm die Tarnfarben am T-Shirt, gleich wie ihm in der Tonfolge des sogenannten Owen-Motivs der vierte, befreiende, das Motiv vervollständigende Klang verwehrt bleibt.

 

Den Zwangscharakter der verkrusteten Wingrave-Tradition drücken bereits die ersten Takte der Partitur aus. Britten, der die Schönberg-Schule entschieden ablehnte, setzte eine Zwölftonreihe ein, um die Kamerafahrt über die Porträts der Wingrave-Ahnen zu begleiten. Damit denunzierte er die überholte Auffassung von Zwang und Unterwerfung im englischen Adelssitz des 19. Jahrhunderts mit der Sprache zweiten Wiener Schule.

 

Trotz solcher Einzelzüge jedoch bietet die Partitur für den Analytiker wenig Raffinement, und er wird eine gewissen Enttäuschung über die Einfachheit der Mittel (Schlagzeug­rhythmen, auf- und absteigende Tonleitern) nicht unterdrücken können. Doch wenn es zur Aufführung kommt, lösen sich alle Einwände restlos auf. Im Vollzug der Komposition erfahren die Hörer die Wirkungsmacht von Brittens Theaterpranke. Mit den ersten Tönen wird das Publikum vom musikalischen Geschehen erfasst und in Bann gezogen.

 

So erging es bereits dem blutjungen Hilfsassistenten David Matthews, der von Benjamin Britten zeitweise zur Erstellung der Partitur beigezogen wurde. Was die Komposition für eine Qualität hat, setzte sich ihm bei der ersten Orchesterprobe unabweislich durch, und voller Stolz vermerkte er in seinem Tagebuch, er sei jetzt der erste Mensch, der über dieses grossartige Werk schreibe.

 

Vierzig Jahre später wurde Matthews, nun selbst Komponist, vom Aldebourgh Festival, das Britten gegründet hat, beauftragt, eine Kammerspielfassung der Oper herzustellen, und dabei zog noch einmal jeder Ton an seinem Auge vorbei. "Ich glaube", erklärt er, "dass es mir auch in der reduzierten Fassung gelungen ist, Brittens Klangvorstellung unverfälscht wiederzugeben". Diese Fassung ist es nun, die in Biel-Solothurn erklingt. (Schade, dass das Programmheft David Matthews' Namen nicht erwähnt.) Und man merkt: Sie funktioniert! Schon Britten begleitete die Gesangslinien sehr sparsam, oft nur mit einem Instrument. In der ganzen Oper gibt es nur ein einziges Forte im Tutti (da, wo der tote Owen entdeckt wird), sonst ist die Komposition immer zurückhaltend und kammermusikalisch durchhörbar.

 

Unter der Stabführung von Harald Siegel erklingt die Partitur im Zusammenspiel und in den orchestralen Solopassagen engagiert, wach und präzise, eine beeindruckende Leistung, die die lange Zeit vernachlässigte, ja verkannte Oper wirkungsvoll rehabilitiert und auf die gleiche Stufe hebt wie die grossen Britten-Titel "Peter Grimes", "Billy Budd" und "The Turn of the Screw". Eine schöne Leistung - auch dank dem jungen, unverbrauchten Sängerensemble, das sich mit voller Kraft und Hingabe in die Aufgabe stürzt, Brittens pazifistischem Anliegen Gehör zu verschaffen.

 

Mit dem Libretto zu "Owen Wingrave" beauftragte Britten Myfawny Piper, die für ihn bereits eine andere James-Erzählung, "The Turn of the Screw", dramatisiert hatte, eine Erfolgsoper, die sich bis heute im Repertoire hielt und letztes Jahr beispielsweise im Zürcher Opernhaus zu sehen war. Die Librettistin fand es schwierig, ja heikel, den kontinuierlichen Erzählfluss der Novelle, die aus der Perspektive des Armee-Instruktors Coyle gesehen wird, in Akte und Szenen zu zerschneiden, wie es das Genre der Oper verlangt, tröstete sich aber am Ende damit, dass Schnitt und Kamerafahrt den Fluss der Erzählung im Opernfilm wieder herstellen könnten.

 

Auf der Bühne von Biel-Solothurn macht nun Regisseur Reto Nickler die Abtrennung in Szenen und Akte, aber auch die Abtrennung in Personen und Charaktere, weitgehend rückgängig. Die Sänger, die von Alter und Profil her nur approximativ zur Rolle passen, identifizieren sich wohl gesanglich, nicht aber darstellerisch mit ihren Figuren. Das zeigt sich am Schluss, wo die Oper aus und die Musik verklungen ist. Da erklären die Mitwirkenden, alle in ihrer Sprache (unter anderem Baseldeutsch, Französisch und Englisch), was die Ziffern bedeuten, die im zweiten Akt an der Kulisse erschienen: Es sind die Zahlen der Kriegstoten in Syrien, die Frankenbeträge der Schweizer Waffenexporte im Jahr 2014. Die Inszenierung macht deutlich: Owen Wingrave, der sich dem Waffenrock verweigert, hat den Krieg nicht abschaffen können. Wir sind heute gleich weit wie 1893, als Henry James die Novelle schrieb, und 1970, als die Oper zur Ausstrahlung kam. Aus diesem Grund strebt Nicklers Inszenierung von der engbegrenzten viktorianischen Adelswelt weg in die Allgemeinheit der Parabel, und dafür vermittelt das Einheitsbühnenbild von Christoph Rasche die Orts- und Zeitlosigkeit eines szenischen Arrangements. Die Aufführung, erklärt dazu das Programmheft, spiele "in einer Art Labor, in einem Fragelabor".

 

Auf diese Weise verlieren nun die beiden Spielorte Kaserne und Haus Paramore ihre Unverwechselbarkeit und werden, wie die Figuren, heraufdestilliert in die Blässe des Lehrstücks über die Austauschbarkeit von Soldaten und Verhältnissen, heute wie gestern und morgen. Doch ohne Verortung im Konkreten verliert jedes Bühnengeschehen seine Kontur. Das wusste schon der alte Theodor Fontane. Zur selben Zeit, als Henry James seinen "Owen Wingrave" herausbrachte, unterstrich Fontane in einem Brief an den nachmaligen Burgtheaterdirektor Paul Schlenther, die Bühne sei "der Schauplatz für Gegensätze. Nur diese schaffen Orientierung, Klarheit." Mit Blick auf Reto Nicklers Inszenierung ist zu vermuten, dass einem die Aufführung stärker unter die Haut ginge, wenn sie die Eigenheit und Eigentümlichkeit von Werk, Figuren und Verhältnissen schärfer und unverwechselbarer herausgearbeitet hätte.

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