Der dritte Akt spielt im Dazwischen. © Tanja Dorendorf.

 

 

Tosca. Giacomo Puccini.

Oper.

Nicholas Carter, Raimund Orfeo Voigt, Bernhard Bieri. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Oktober 2023. 

 

> Eine klassische "Tosca". Also bewährt, was die Erzählweise betrifft (der klassische Kriminalroman), und, was die Musik angeht, unübertrefflich in ihrer Art (das klassische Tiramisu). Die Regie erweitert die Handlung nicht durch Dekonstruktion, Aktualisierung oder Einbezug zusätzlicher Elemente wie Parallelgeschichten, Nebenfiguren, Video oder Puppenspiel, sondern bringt das Geschehen klassisch zur Entfaltung, das heisst massvoll, harmonisch, vollendet. Dazu steigern die Solisten, der Chor und das Orchester die Wiedergabe ins Vorbildhafte. Für ihre Leistung bedeutet Klassizität schlicht: mustergültig. <

 

Das Licht stammt von Bernhard Bieri. Gleissende Strahlen aus der Diagonalen und dramatische Schattenwürfe auf den Flächen schaffen expressive Kontraste. Dann verdämmert die Szene in gleichmässigem Grau. Den zweiten Akt beherrschen Gold- und Brauntöne. Funkelnde Kristalleuchter setzen die Glanzpunkte, champagnerfarbene Vorhänge dämpfen die Stimmung und verbergen die Folterszene. Im dritten Akt – die Nacht weicht dem Tag – bezeichnet unbestimmte Farblosigkeit das Nichtmehr und Noch­nicht.

 

Bernhard Bieris Lichtkomposition ist so modulationsfähig und belebt wie Giacomo Puccinis Meisterpartitur. Die Handlung gleitet in unablässig vorwärtsstrebendem Fluss von einer Szene zur nächsten – musikalisch, optisch, psychologisch und dramaturgisch.

 

Diesen Fluss, den das Licht sacht und fast beiläufig mitgestaltet, hebt das Dirigat von Nicholas Carter mit kompromissloser Redlichkeit ans Licht. Wenn Gustav Mahler sagte: "Tradition ist Schlamperei", so spielt das Berner Symphonieorchester durch alle drei Akte der "Tosca" hindurch so wach und präzis, als sässe es dauernd auf der Stuhlkante. Messerscharfe Bläser- und Schlagzeuginterventionen werden abgenommen von schöngestalteten, kontrollierten Streicherdiminuendi; und innig beseelte Instrumentalsoli leiten die grossen Arien ein. Die gezupften Harfentöne bei "E lucean le stelle" und die Klarinette sind zum Niederknien.

 

Bei dieser Qualität der Tonspur nimmt sich die Inszenierung in den beiden ersten Akten weise zurück – und im dritten Akt steigert sie sich zu überraschender Originalität. Die Musik beschreibt mit gestischer Eindringlichkeit eine Vielzahl genrehafter Momente (wie 27 Jahre später im Tonfilm). Regisseur Raimund Orfeo Voigt indes verzichtet darauf, das, was die Instrumente ausdrücken, durch Pantomime zu illustrieren. Häufig spricht bei ihm die leere Bühne allein. Eine Aufwertung, wenn Verdoppelung (ja sagen und dazu nicken) Kitsch bedeutet.

 

Der dritte Akt schliesslich ruht auf einer genialen Weigerung. Voigt siedelt die Handlung nicht auf der Dachterrasse der Engelsburg an (la piattaforma di Castel Sant'Angelo), sondern auf der Treppe, die dort hinaufführt. Cavaradossi ist behelfsmässig mit Handschellen ans Geländer gekettet. In einem Moment zeitgeschichtlicher Anarchie befindet sich die Handlung nicht nur, was die Tageszeit, sondern auch was die Situation angeht, in einem Dazwischen. Die Antwort auf die Frage "Hinauf? Hinunter?" wird der Tod bringen. Auf diese Weise steigert das Bühnenbild zum letzten Akt von Puccinis veristischer Oper das Treppenhaus zum symbolischen Lokal.

 

In der Berner "Tosca" füllen die kleinen Rollen ihren Part perfekt aus. Besonders beeindruckend Jonathan McGovern als Angelotti (glaubhaft und stimmstark), Iyad Dwaier als Schliesser (mit rundem, schwarzem Bass) und Maël Stähler als Hirte (eine wundervoll naive, zarte Knabenstimme). Die Chöre der Kinder und Erwachsenen haben Abélia Nordmann und Zsolt Czetner harmonisch abgemischt.

 

Getragen wird das Drama vom Trio der Hauptfiguren. Immer, wenn Elisabeth Caballero auf der Bühne steht, löst sich im Spiel der Männer die Künstlichkeit auf, und sie singen besser. Das liegt am Ansatz der Caballero, die sich als Gestalterin erweist. Tosca bei ihr ist keine Diva, sondern ein Mensch. Darum ist nichts an ihr künstlich oder exaltiert. Ihre Natürlichkeit weckt Anteilnahme am Schicksal, das nicht die Monstrosität einer Primadonna spiegelt, sondern die Monstro­sität der Gewalthaber.

 

Mit seinem Porträt von Baron Scarpia erinnert Seth Carico daran, dass Alexander der Grosse, Cäsar und Napoleon Epileptiker waren. 1976 veröffentlichte der Genfer Arzt Pierre Rentchnick eine berühmte Untersuchung über "Die Kranken, die uns regieren". Wie Seth Caricos exakte Studie zeigt, liegt der Keim des Unheils in der Zerrissenheit des Mannes, in dessen Hand die Fäden zusammenlaufen.

 

Zu seinen Opfern gehört der Maler Cavaradossi, von Mykhailo Malafii eindrücklich verkörpert. Er zieht den Blitz auf sich, weil er lieben und nicht bloss begehren kann, weil er begabt ist und sich für einen Verfolgten einsetzt. "Nichts beschreibt den König besser als seine immense Furcht und Aversion gegen den Geist und alle überdurchschnittlichen Kenntnisse, die er als Verbrechen an seiner Majestät auffasste." Der Herzog von Saint-Simon machte diese Analyse von Ludwig XIV. im Jahr 1709. Die Passage ist noch nicht veraltet.

 

Dramatische Schattenwürfe. 

Gediegene Brauntöne. 

Unbestimmtes Dämmerlicht. 

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0