Vier Frauen verkörpern ein weibliches Ich. © Annette Boutellier.

 

 

Ein Leben. Annie Ernaux.

Schauspiel nach den Romanen in einer Fassung von Armin Kerber.

Stina Werenfels, Magdalena Gut, Monika Goerner-Vogt, Joël Mathys, Rolf Lehmann, Michael Riffel. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. September 2023.

 

> Also neu ist nichts. Dass ein Leben erzählt wird, kennen wir seit "Simplicius Simplicissimus", dem "Bauernspiegel" und dem "Grünen Heinrich". Dort wird ebenfalls verhandelt, dass unterm Erzählen ein Buch entsteht. Dass es sich im konkreten Fall um ein Frauenleben handelt, ist nach "Madame Bovary", "Effi Briest" und "Aline" auch nicht gerade neuartig. Dass schliesslich die Geschichte des weiblichen Ichs von vier verschiedenen Schauspielerinnen vorgetragen wird, die sich bei der Rezitation abwechseln, ist, namentlich auf der deutschen Bühne, seit zwanzig Jahren "courant normal". Also was soll's? Wozu der Lärm? Nun, das Aussergewöhnliche dieser auf den ersten Blick so konventionellen Produktion liegt in ihrem aussergewöhnlichen Gespür. Die Handlung wird dergestalt geführt, dass alles am richtigen Platz ist: keine falsche Betonung, kein falscher Blick, keine falsche Gebärde, keine falsche Emotion. Alles stimmt, bis ins letzte Detail. Und so kommt es, dass auf der Bühne "Ein Leben" dermassen redlich abläuft, als wär's ein Stück von uns. <

 

Armin Kerber hat vier Bücher der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux zu einer "Montage" zusammengezogen: "Die Jahre", "Erinnerungen eines Mädchens", "Das Ereignis", "Der junge Mann". Die Autorin spricht darin von sich selbst. Das Publikum im Berner Schauspiel aber erlebt, indem es dem Faden der Rede folgt:

 

Lesen ist Dialog. Es erweitert unser Dasein, es vitalisiert und vergrössert unseren Erfahrungsschatz, es ist sozial, und es gibt uns Wissen.

 

Mit diesen Sätzen hat die Literaturwissen­schafterin Corina Caduff formuliert, was die Begegnung mit Texten bringt:

 

Lesen ist Austausch – Austausch mit der Stimme des Autors, die immer eine Geisterstimme bleibt; Austausch mit einer Welt, die in unserem Alltag nicht laut wird; Austausch mit dem Verschwiegenen in uns selbst. Wir können nicht überall und jederzeit alles aussprechen, die Literatur hingegen schon: Sie spricht von tiefsten Ängsten und unerlaubten Wünschen. Sie zeigt Gewalt und ungehörige Handlungen. – Das literarische Sprechen ist ein geschütztes Sprechen: Es kennt keine moralischen Zwänge, es kennt keine Sanktionen, es darf alles sagen. Wenn wir ihm dabei folgen, dann plaudert es mit unserer Vorstellungs­kraft.

 

Bei "Ein Leben" tritt nun das Sprechen aus dem Buch auf die Bühne. Und hier wirken neben den Wörtern noch weitere Faktoren mit: die Zeit zunächst, die objektive, unverrückbare physikalische Zeit. Die Aufführung umfasst 1 h 45 min. In diesem Rahmen sind alle eingesperrt: Die Zuschauer, die Schauspieler, der Inhalt. Im Gegensatz dazu hat das Lesen seine individuelle, dehnbare, vom Aufnehmenden bestimmte Zeit.

 

Beim Theater aber ist die Gestaltung der Zeit das Werk der Regie. Sie verwandelt in der Kombination von Text, Schauspie­lern, Beleuchtung, Klang und Raum den physikalischen Ablauf von Sekunden und Minuten in ein Ereignis, für das wir immer wieder das Theater aufsuchen; denn es vermittelt uns, wenn es gelingt, die im Leben so seltene Erfahrung erfüllter Zeit.

 

Damit das zustande kommt, braucht es Gespür. Denn im Grunde ist alles, was zum einfachen Wort hinzukommt, schon zu viel; es verschiebt die Gewichte; es lenkt ab; es tritt durch auftrumpfende Virtuosität oder plumpes Versagen in Konkurrenz zur flüsternden Geisterstimme des Texts. Darum ging am Deutschen Theater Berlin "Gertrud" nach Einar Schleefs Roman daneben, und am Residenztheater München "Herz aus Glas" nach Herbert Achternbuschs Drehbuch. Die Produktionen interagierten nicht sensibel genug mit dem Text. Die Regie war verkopft und brachte nicht Erweiterung, sondern Gymnastik und leeres Gefuchtel. Wo belebte Kunst verlangt war, lieferten die Aufführungen nur Konzepte und bewegte Excel-Tabellen.

 

In Bern arbeitet die Regisseurin mit denselben Elementen wie alle andern: Bühne (Magdalena Gut), Kostüme (Monika Goerner-Vogt), Musik (Joël Mathys), Video (Michael Ryffel), Licht (Rolf Lehmann). An ihnen führt Stina Werenfels vor, wo die Kunst liegt: in der Dosierung. Die Mittel verklumpen nicht zu Saucen, sondern bilden in sich stimmige, zurückhaltend eingesetzte Assoziationsfelder und befeuern die Phantasie.

 

Folglich ereignet es bei "Ein Leben", dass ...

 

... ich mir die Szenen des Texts visuell vorstelle, ich male mir die Figuren und ihre Handlungen aus, ich kreiere ständig neue Schauplätze, ich bin in Aktion.

 

In Anlehnung an Corina Caduffs Aufsatz können wir sagen:

 

Die inneren Bilder, die uns die Bühne abfordert, die machen wir mit Wärme, wir besetzen sie mit Affekten, mit Zuwendung. Im Austausch mit den Worten sind sie voller Gespräch und Leben.

 

Dieses Wechselspiel könnte sich nicht einstellen, wenn nicht zwei Bedingungen erfüllt wären: Erstens eine makellose Diktion aller Beteiligten und zweitens eine treffsichere Evokation von reichem, differenziertem Subtext. Was darunter zu verstehen sei, hat der Basler Hörspielregisseur Claude Pierre Salmony erklärt:

 

Man muss nicht psychologisch geschult sein, um zumindest zu ahnen, wie schnell unsere Gestik und Stimmführung unseren Aussagen Konträres oder gar Kontradiktorisches beifügen. Das Auseinanderklaffen von Körpersprache und Verbalsprache ist eine wichtige Quelle für die Figurenzeichnung. Analy­siert man Parallelität und Differenz der beiden Ausdrucks­ebenen, stösst man auf einen Text "unter" dem Theatertext, auf den Subtext, der gerade durch seine gegenläufigen Tendenzen für die Spannung der Szenen sorgt.

 

Bei "Ein Leben" entsteht "die Spannung der Szenen" durch ein imponierend genau bemessenes Spiel mit "Parallelität und Differenz". Zu Annie Ernaux' Worten bringt die Bühne Andeutung, Illustration, Erweiterung, Kommentar, just genug, damit wir uns "die Figuren und ihre Handlungen" ausmalen und dennoch die Freiheit behalten, eine eigene Stellungnahme zu formu­lieren.

 

Stina Werenfels' vorzüglich gefasster Subtext reguliert also das Spiel der Darsteller. Mit einer Aufzeichnung würde sich belegen lassen, wie sensibel alle miteinander interagieren. Im Bann der Aufführung ist man einfach nur hingerissen, wie fein Jeanne Devos, Isabelle Menke und Genet Zegay "Parallelität und Differenz" im Ich der Erzählfigur zum Ausdruck bringen. Dazu kommt die Interaktion mit den Männern (Jan Maak und Jan Hensel): inhaltlich redlich, bewegend und reich; und künstlerisch virtuos in der Abstufung von Faszination und Grauen.

 

Die alte Nikola Weisse bringt eine weitere Farbe: die Vornehmheit des durchmessenen Lebens. An ihr spiegeln sich die Ebenen der Zeit, die das reflektierende Bewusstsein aus dem getakteten Ablauf von Stunden, Tagen und Jahren zu Sinn­zusammen­hängen herausbildet. Mit diesen Verbindungslinien zeigt "Ein Leben", was der Wiener Psychiater Viktor Frankl zu "Sinn und Wert des Lebens" ausführte:

 

In seinem konkreten Lebensumkreis ist jeder einzelne Mensch unersetzlich und unvertretbar, und dort ist es jeder. Die Pflichten, die ihm sein Leben auferlegt, hat nur er, und ausschliesslich von ihm ist er gefordert, sie zu erfüllen.

 

Die Frage kann nicht lauten: "Was habe ich vom Leben zu erwarten? " – sondern: "Was erwartet das Leben von mir?" Welche Pflicht, welche Aufgabe im Leben wartet auf mich?

 

Vor diesem Hintergrund mündet der Abend im Berner Schauspiel mit den Texten von Annie Ernaux in die Frage: "Und du? Wie stehst du eigentlich da?"

 

Und der Kritiker stellt die Frage: Kann man von Theater mehr verlangen?

 

Dichtes Spiel mit Raum ... 

... und Subtext. 

 
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